Ich bin mit 18 von zu Hause ausgezogen. In ein verlottertes Haus, in eine herzige Wohnung, in der ich selbst heizen musste, es war im Winter schrecklich und im Sommer
grossartig, und ich fühlte mich sehr erwachsen. Zu dieser gefühlten
Erwachsenheit passte nur ein Medium, das mein Bedürfnis nach
Weltläufigkeit und voll
Drauskommen befriedigen konnte: Die "Weltwoche". Damals noch eine
grosse Zeitung, und zwar im wahrsten Sinn des Wortes, nicht nur
gross im Format, sondern einfach wirklich
gross-artig, mit schönen Reportagen und relevanten
Politgeschichten und fundierten Auslandgeschichten. Ich liebte dieses Blatt, las es immer von Anfang bis Ende durch (bevor ich es dann benutzte, um den Ofen
einzuheizen).
Ab und zu lese ich die "Weltwoche" heute noch. Lange hatte ich ihr noch die Treue gehalten, sowohl als sie plötzlich zum Magazin und damit zum
Hipster-
Accessoire wurde, wie auch dann, als sie
schliesslich als
SVP-
Heftli in Verruf geriet. Mich nervte die kollektive Empörung der
Korrektos, lange fand ich das Heft immer noch erfrischend, weil es sich eben nicht dem
Mainstream ergab. Die rechte Rhetorik ertrug ich,
schliesslich war das Blatt immer noch relevant.
Irgendwann stellte ich aber fest, dass ich immer weniger Texte in der "Weltwoche" wirklich lesen mochte. Dass darin lauter Themen behandelt wurden, die sonst schon überall abgehandelt worden waren. Dass ihre Haltung unglaublich vorhersehbar geworden war. Ich glaube, hier wäre der Gebrauch des Wortes "reaktionär" angebracht. Manchmal, wenn eine Angelegenheit gerade überall in der Presse war, spielten wir das Ratespiel: "Und welche Haltung wird die "Weltwoche" dazu haben?", und lagen fast immer richtig:
hauptsache Anti-
Mainstream, egal,
obs Sinn macht oder nicht, egal, wie sehr man etwas konstruieren musste. (Manchmal dichteten wir auch fiktive Schlagzeilen: "Zucker ist gar nicht ungesund - die Lügen der Fitness-Mafia" etc). Die Zeitschrift hatte zunehmend etwas extrem Verkrampftes. Die besten Schreiber sprangen ab oder mussten gehen, was
weiss ich, die schönen, schönen Titel, an denen ich mich früher Woche für Woche ergötzen konnte, die wir uns mit Hochgefühlen vorlasen und sehr bewunderten (ich glaube, die waren vom damaligen Textchef
Ingolf Gillmann,
den hat der Roger Köppel aber entlassen) verschwanden zunehmend und sind jetzt eigentlich ganz weg.
Schliesslich kündigte ich mein Abonnement, wenn auch schweren Herzens.
Vergangene Woche war ich am Flughafen und hab eine "Weltwoche" gratis gekriegt. Der Flug hatte 3,5 Stunden Verspätung, und ich las die Zeitschrift so gründlich wie schon lange nicht mehr.
- Ich las einen guten Kommentar zum Fall Gaddafi.
- Ich las einen extrem konstruierten Vergleich zwischen dem Papst und dem
Dalai Lama, in dem der derzeit überall kritisierte Papst (Achtung
Anti-
Mainstream) gelobt wird.
- Einen
Scoop über die angebliche Verschwörung der bösen
Bieler SP gegen den
superduper Bieler FDP-
Spitalsanierer.
- Eine
Gletscherforschungsstory, die "die Aufregung um die
Erderwärmung relativiert" ("Kaum je" nämlich "ist in Reiseberichten der Römer von Gletschern oder
weissen Alpen die Rede."
Aha! Beweis!)
- Eine Kritik an der geplanten Regulierung der
Grossbanken ("
hirnlos").
- Ein
Fussballgeschichtli (vom früher mal kurzzeitigen "Blick"-Sportchef, der jetzt beim "Magazin" schreibt und als Einstand ein
voyeuristisches Interview mit einer
Berlusconi-Geliebten publizierte).
- Eine
Verteidigungsschrift für die
UBS (mit einem lustigen Bild von
Grübel und
Villiger).
- Ein Loblied auf
Grübel.
- Eine Abrechnung mit den bösen anderen Medien, die der lieben
UBS an den Karren gefahren waren.
- Ein
Verris des
SP-Parteiprogramms.
- Eine Geschichte über einen
Solothurner Justizskandal, bei dem ein
Kosovo-Albaner, der eine arme alte Frau
ungebracht hat, offenbar unbehelligt davonkam.
- Einen
Fernseh-
Abschrieb über eine "Reporter"-Sendung, die vor W-o-c-h-e-n auf
SF lief, über eine tatsächlich sehr seltsame Reaktion der Basler
Integrationschefin (gut - aber spät - aufgeschnappt).
- Eine Geschichte über eine französische Fotografin, die erotische Fotos macht (ich stell mir das an der
Redaktionssitzung etwa so vor: "Du, wir brauchen noch etwas Sex im Blatt! Paar Brüste! Du
Bea, kannst du nicht aus ein paar Zitaten aus deutschen Magazinen etwas über diese Fotografin basteln? Die macht so
Sexföteli, das
gfallt unseren Lesern. Wir tun dich für diesen
grossartig recherchierten Artikel dann auch vorne im Inhaltsverzeichnis als "Autorin" erwähnen,
isch guet?") (Aber der Schluss des Textes ist durchaus hübsch.)
- Ein Interview mit einem "renommierten Familienforscher" und
Anti-
Feministen, das mich lehrt, dass sich Frauen immer so blöd als Opfer darstellen, nämlich.
- Ein Interview mit der Chefin von
Chopard. Daneben, in einem anderen Artikel, im redaktionellen Teil
notabene, Lob für zwei Schmuckstücke von
Chopard.
- Ein "Porträt" von Eva Braun auf der Basis einer Biografie, die schon vor Monaten in allen deutschen Magazinen (allerdings kritisch einordnend) besprochen worden ist. In dem Text wird
Fröllein Braun als liebende, naive, treue, unbedarfte Geliebte dargestellt, die aber eigentlich auch ein bisschen Schuld an dem ist, was ihr Adolf getan hat. Von Julia
Onken. (H.a.l.l.o.? Schreibt die sonst nicht so
Beziehungsratgeber? Wäre sie nicht besser dabei geblieben?)
- Und zum versöhnlichen Abschluss noch ein Porträt eines Paares,
Heiratsrubrik. Er: das Paradebeispiel eines guten schwarzen Muslimen, der doch tatsächlich arbeiten geht. "Der Islam wird im Senegal nicht so streng praktiziert wie anderswo", sagt seine Verlobte,
puh, dann sind wir ja froh!
Nach dem Ende der Lektüre stellte ich fassungslos fest, dass die "Weltwoche" gleich
beides fast vollständig eingebüsst hat, das sie mal auszeichnete: Die guten Texte
und die Relevanz. Über die Frage, ob dafür der Sympathieträger Roger
Köppel verantwortlich ist, konnte ich nicht mehr lange nachdenken, denn mein Herz blutete zu stark.
Und kurz bevor ich
schliesslich verblutete, erweiterte ich noch meine
Lieblingstheorie: Für unseren unheimlichen Wohlstand, den hohen Lebensstandard und das Glück, in der sauberen,
tipptoppen Schweiz leben zu dürfen, zahlen wir einen Preis. Und der ist: schlechtes Radio
und ungute Zeitschriften.
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PS1: Teil I der unglücklichen Liebesgeschichte "
Caramel und die Magazine"
hier.
PS2: "
Machs doch besser!", ruft jetzt Doris aus
Köniz.
"
Nö, ist nicht mein Job!", singe ich da zurück, "mein Job ist Sachen hübsch oder blöd finden, und den kann ich ganz gut!"