Samstag, 19. März 2011

Herr und Frau Spiesser erleben ein sexuelles Abenteuer

Es ist immer ein bisschen anstrengend, wenn ich auf den 23.30-Zug nach Bern muss und im Hallenstadion ein Konzert war. Nach Katy Perry waren die Abteils gestopft mit Teenagern, das geht noch, die haben ja schliesslich auch eine offizielle Genehmigung, ein wenig doof zu sein und laut und anstrengend; das ist schon okay. Gestern aber: Jamiroquai. Und man kann sich vorstellen, wer da hingeht - so "ganz normale" Leute, um die 30, der klassische DRS3-Hörer und 20-Minuten-Leser, Menschen, die auch Jack Johnson und Norah Jones hören, Administrationspersonal, das mal was Bobbiges sehen will, Paare, die häbele, wenn ein Slow-Lied kommt, etc.

Ich hatte noch Glück gehabt, dachte ich zuerst, mir gegenüber eines dieser ganz normalen Paare, er könnte Patrick heissen, ein bisschen runder Kopf und dunkle Haare und vermutlich eine dieser Levi's mit leichtem Bootcut, der klassische stv. Teamleiter eines mittelständischen Unternehmens; sie könnte Jasmin heissen oder Stéphanie, langes, dünnes, blondes Haar, eine verblüffend schöne Tiger-of-Sweden-Tasche (ein Glücksgriff bei Company's, vermute ich), Kleidung, so normal, dass nichts davon in Erinnerung bleibt, das Gesicht ebenso. Denen eine Stunde vis-à-vis zu sitzen, würde schon gehen, glaubte ich.

Zuerst auch tatsächlich das normale Spiesser-Programm, ein paar iPhone-Videos vom Konzert gucken, auf denen man nichts hört als das Publikum; dann zeigt sie ihm das Wochenmenü in der Kantine ihrer Firma, einer Krankenkasse oder Versicherung, würde ich tippen, Schweinshalsbraten und Kroketten und Kürbissuppe! Für nur 10 Franken! - ich hörte nur ab und zu ein Fragment und kümmerte mich sonst um mein eigenes Zeug.

Irgendwann merkte ich aber, dass Jasmin nicht etwa im Schlaf selig lächelte, und dass auch Patrick nicht pennte, sondern dass er die Augen nur zu hatte, um zu geniessen - denn mit dem Arm, der um ihren Hals lag, streichelte er ihr die Brust. Über der Hand lag ihr Halstuch zur Tarnung. Ab und zu küsste er ihr das Ohr, wie das Männer tun, die in "GQ" mal gelesen haben, das Ohr sei im Fall eine erogene Zone.

Zuerst warf ich einen belustigten Blick, signalisierte: ich habs gemerkt, okay, jetzt bitte aufhören, und dachte, das Thema sei jetzt erledigt.

10 Minuten später wusste ich nicht mehr wohin gucken, weil die Geilheit der beiden förmlich im Abteil greifbar war. Zunächst war ich ja noch davon ausgegangen, dass die beiden meinten, es merke es niemand, aber dann hörte ich, wie sie ihm zuflüsterte: "Das spiegelt in der Scheibe, das sieht man", und er antwortete: "Na hoffentlich".

Mir war ein bisschen schlecht, als wir in Bern ankamen. An den Tag, an dem Herr und Frau Spiesser ein sexuelles Abenteuer im Zug erlebten, werden sich die beiden bestimmt noch lange erinnern. Eines Tages wird Patrick zu Jasmin sagen: "Weisst du noch, damals, nach dem Jamiroquai-Konzert? Da habe ich doch endlich mal wieder einen hochgekriegt."

6 Kommentare:

  1. Sind Sie aber böse...! Was ist Ihrer Meinung nach eigentlich ein Spiesser? Reicht es bunte Kleidchen zu tragen und intelligente Lifestyle-Texte in verschiedenen Medien und Blogs zu platzieren um wirklich kein Bünzli zu sein?

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  2. Spiesser sind z.B. Leute, die im vollen Zug rummachen, um ihr Leben ein wenig aufzupeppen. Oder auch solche, die anonym abschätzige Kommentare schreiben mit dem Unterton "ich weiss dann im Fall schon, wer du bist". Ahoi!

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  3. Wollte Sie nicht beleidigen. Ich schätze ihre Art von Unterhaltung sehr. Die Antwort auf meine Frage würde mich aber wirklich interessieren... Schöne Ferien!

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  4. Ah so. Dann bin ich froh. Jä denn. Ich überlegs mir mal, in den Ferien... Adieu!

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  5. Tolle Geschichte....
    Schöne Ferien
    Adieu Maresa
    Wieter so!

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  6. Liebe Fröilein Caramell - Nur der Spiesser erkennt den Spiesser! Doch jetzt nicht gleich ausflippen, denn der Spiesser steckt in jedem von uns. Einige von uns versuchen dem Spiessertum konsequent zu entgehen und bauen eine Art Spiesser-Frühwarnsystem auf. Diese «Firewall» analysiert effektiv jedes erdenkliche Muster und legt diese in Schubladen ab. So werden auch die berühmten Klischees geschaffen oder so genannte «Grösste gemeinsame Nenner». Das, in Ihrem Text so wunderbar beschriebene Paar, wirkt daher so spiessig, weil es vor lauter Klischees nur so strotzt. Meine persönliche «Firewall» wäre wohl, ob dieser Überreizung implodiert!

    Mit liebem Gruss
    Rolf Nai

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